„Berlin - Franz Rembold öffnet eine Glasvitrine, nimmt die Langspielplatte mit dem grauen Umschlag heraus und legt sie auf den Besprechungstisch. „Wolf Biermann Chausseestraße 131“ steht oben auf dem Cover, darunter ein großes Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigt den Liedermacher in einem alten Ohrenledersessel, seine Gitarre lehnt in einem anderen Sessel, auf einem Tisch am Rand steht eine Schreibmaschine, an den Wänden Bücherregale und viele Bilder. Es ist das Original eines berühmten Plattencovers. Es gibt nicht viele Alben, die nach einer Straßenadresse benannt sind.
Wolf Biermann hat diese Adresse bekannt gemacht. Wenn man sich ein wenig mit der Geschichte dieses Hauses beschäftigt, stellt man bald fest: Sie beginnt natürlich nicht mit dem Mieter Biermann. Sie ist verbunden mit noch viel dramatischeren Schicksalen aus der finstersten Zeit der jüngeren deutschen Geschichte. Denn einst gehörte das große Eckhaus Chausseestraße 131 wohlhabenden jüdischen Bürgern, die ihr Eigentum während der Naziherrschaft verloren. Erst mehr als sechs Jahrzehnte später haben ihre Erben es auf verschlungenen Wegen zurückerlangt, auch mithilfe von Franz Rembold.
Berlin-Mitte, Chausseestrasse 131, ein Büro in der zweiten Etage. In der Wohnung gleich nebenan hat Wolf Biermann 1968 das Album aufgenommen. Der Liedermacher hatte Auftrittsverbot in der DDR wegen seiner widerborstigen Texte, in denen er die SED und ihre Funktionäre mit scharfer Kritik und böser Satire überzog. So machte er sein Wohnzimmer zum Tonstudio und nahm seine Lieder mit einem aus dem Westen beschafften Grundig-Tonbandgerät auf, zum Teil bei geöffnetem Fenster. Man hört manchmal den Straßenlärm, das Quietschen der Straßenbahn, die Zweitaktmotoren der Trabis, Hundegebell.
Das Band wurde in den Westen geschmuggelt und erschien als Schallplatte im linken West-Berliner Verlag von Klaus Wagenbach. Das war eine kleine Sensation, den Zensoren der DDR so ein Schnippchen zu schlagen. Biermann erklärte den Titel so: „Er sollte sagen: Dieser Biermann ist zwar im Osten verboten – deshalb erscheint seine Platte ja auch ohne DDR-Genehmigung im Westen –, aber er spielt kein Versteck, er hat Name und Adresse in Berlin, für Freund und Feind leicht zu finden.“
Franz Rembold schaut ein wenig distanziert auf das Album. „Das hat mal ein Besucher mitgebracht“, sagt der Immobilienunternehmer mit leicht schwäbischem Akzent. Gehört hat er die Platte noch nie. Für einen, der in den Sechziger-, Siebzigerjahren im deutschen Südwesten aufgewachsen ist, war die DDR, waren die kulturpolitischen Kämpfe im anderen deutschen Staat sehr weit entfernt. Heute gehört seinem Geschäftspartner Oliver Hirt und ihm das Haus in der Chausseestraße 131, dort hat auch ihre Firma Agromex ihren Berliner Sitz.
Wenn man die Friedrichstraße bis zu ihrem Ende hinaufgeht, fällt einem das Gebäude an der belebten Kreuzung von Chausseestraße, Hannoverscher Straße und Torstraße gleich ins Auge. Das vierstöckige Eckhaus beherrscht die Kreuzung, und es ist in einem für diese boomende Gegend auffällig schlechten Zustand. Der graue Putz aus DDR-Zeiten ist brüchig, irgendwann vollzogene Ausbesserungen ziehen sich wie ein heller Ausschlag über die Fassade, an den Fenstern blättert die Farbe ab. Das Haus zeigt die Spuren seiner Geschichte...“
Dieser Artikel erschien in ungekürzter Fassung am 12./13. Oktober 2019 in der Berliner Zeitung.