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26.10.2018
Florian Schmidt
CG Gruppe
Hallesches Ufer 60 (Hallesches Ufer/ Großbeeren-/ Möckern- und Hallesche Straße, 10963 Berlin), 10963 Berlin


Offener Brief (gekürzt):

Sehr geehrter Herr Professor Sauerbruch, vielen Dank für Ihren offenen Brief, den ich mit großem Interesse gelesen habe. Sie benennen darin einige Themen, zu denen ich gerne Stellung nehme. Zunächst kurz zu meinem Tweet, in dem ich sage, dass ich mir Architekt*innen merke, die für Bauherr*innen arbeiten, die mit Baugenehmigungen spekulieren. Dieser Tweet war bewusst provokativ. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich, von begeistertem Zuspruch bis hin zu ausartenden Hassmails. Wie Sie selbst richtig annehmen, wird niemand bestraft. Es werden keine Listen angelegt und in Friedrichshain-Kreuzberg wird auch keine Diktatur eingeführt, wie es manche behaupteten oder andeuteten.


Es geht um eine andere Frage, die der Tweet auch beinhaltet: Haben oder brauchen Architekt*innen einen „moralischen Kompass“? Dies ist ein Thema, das meines Erachtens zu wenig diskutiert wird. Sowohl Ihre Aussage, wonach Architekt*innen die einzigen seien, welche das Allgemeininteresse noch im Blick hätten, wie auch die Aussage des Berliner Landesvorsitzenden des Bundes Deutscher Architekten, Andreas R. Becher, dass Architekt*innen qua Berufsstatus einen moralischen Kompass hätten, unterstreichen den Eindruck, dass Gesprächsbedarf besteht.


Als Soziologe stelle ich fest, dass eine Selbstbeschreibung vorliegt, die Architekt* innen einen besonderen gesellschaftlichen Status zuschreibt. Sie seien per se auf der Seite des Gemeinwohls. Die Realität in meinem Bezirk ist jedoch die, dass Architekt*innen an vielen Projekten mitarbeiten, die gesellschaftlich von beschränktem Nutzen sind, um es vorsichtig auszudrücken. Zunächst sind da unzählige Modernisierungs- und Umwandlungsmaßnahmen, die direkt oder indirekt zu Verdrängung von einkommensschwachen Menschen führen. In Katalogen werden die neuen Wohnwelten angepriesen und astronomische Preise gerechtfertigt. Weiterhin gibt es viele Bauprojekte, die nicht ausgeführt werden, weil das Weiterverkaufen deutlich lukrativer ist als das Bauen. Schließlich gibt es Großprojekte, die neue Wohn- und Arbeitswelten entstehen lassen. Doch diese sind in der Regel von einem Duktus zwischen Luxus und aufgesetzter innovativer Mischung getragen. Natürlich sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen der tiefere Grund für diese Art von Projekten. Doch alle, die daran mitwirken, tragen auch Verantwortung. Natürlich sind die gesellschaftspolitischen Bewertungen solcher Projekte Ansichtssache. Meine Ansicht ist, dass wir in zweierlei Hinsicht die Stadtentwicklung neu denken müssen.
 

Das möchte ich Ihnen am Beispiel des Postscheckamts darlegen: Zum einen war der Ausgangspunkt des Projektes denkbar ungünstig. Ein mittelbar öffentliches, baurechtlich dem Gemeinbedarf zugeordnetes Areal wird ohne Auflagen privatisiert. Danach setzen sich Politik und Eigentümer zusammen und führen ein Wettbewerbsverfahren durch.
 

Das Ergebnis ist eine städtebauliche Figur mit einer Nutzungsmischung, die zwei zentrale Merkmale aufweist:
a) Extreme Verdichtung und Orientierung der Mischung entlang einer hochwertigen und hochpreisigen Version von Stadt. Der Wohnturm hätte möblierte Kleinstwohnungen beinhaltet, die zeitlich befristet zu hohen Preisen vermietet worden wären. Die Kurzzeitbewohner* innen aus dem mittleren Management von Großkonzernen würden die Infrastruktur des Bezirks nutzen, aber sicher nicht Teil des Kiezes werden.
b) Die Konzeption gibt eine detaillierte Entwicklung vor, bevor Öffentlichkeit und Nachbarschaft einbezogen wurden.


(...) Die Planungshoheit liegt beim Staat und nicht bei den Privateigentümer*innen. (...)


Mit freundlichen Grüßen Florian Schmidt (B'90/Die Grünen), Bezirksstadtrat Friedrichshain-Kreuzberg, Abteilung für Bauen, Planen und Facility Management


(Dies war die Antwort vom 27. Oktober 2018 auf einen Offenen Brief des Architekten Matthias Sauerbruch an den Bezirksstadtrat Florian Schmidt, der im Tagesspiegel vom 20. Oktober 2018 abgedruckt wurde und in dem der Architekt Beschwerde über die nicht vollständige Berücksichtigung des Ergebnisses eines Kooperatives städtebauliches Workshopverfahren mit 6 eingeladenen Architekturbüros führte.)

Update vom 13.1.2019: Investor Gröner gibt Kreuzberger Postscheckamt auf, https://www.morgenpost.de/bezirke/friedrichshain-kreuzberg/article216185431/Investor-Groener-gibt-Kreuzberger-Postscheckamt-auf.html



Nachträge


27. November 2020, Berliner Zeitung: Bezahlbares Wohnen in bester Lage


10. Juni 2020: Neue Bauherren sind jetzt die landeseigene Degewo und die private Investgesellschaft "Art-Invest Real Estate" (Köln). Als erstes sollen nun die Flachbauten abgerissen werden. Im Hochhaus sind im Erdgeschoß und im 1. OG Fitneßzentrum und Co-Working-Arbeitsplätze für ca. 3000 Menschen geplant. Die Degewo will rundherum sechs Gebäude mit 7-8 Geschossen und 320 Wohnungen und einer Kita errichten, auch mit Handel und Gastronomie.


10. Juni 2020, Berliner Zeitung: Bauprojekt Hallesches Ufer - Die hochfliegenden Pläne sind passé


Weitere Geschichten zur CG Gruppe findet Ihr hier: Steglitzer Kreisel, Schloßstraße 80 und Chausseestraße 38-42a.